Von den Bishnois in Rajasthans, tiefem Glauben und heiligen Gazellen

Von den Bishnois in Rajasthans, tiefem Glauben und heiligen Gazellen

Mein Live-Reportage „Soul of India“ ist fast fertig gestellt, als ich im Oktober 2017 zur letzten Indien-Reise für dieses Foto-Projekt aufbreche. Ich möchte noch einmal die Bishnoi besuchen, deren Leben ich schon vor 4 Jahren dokumentiert habe. Ich habe noch ein besonderes Motiv im Kopf und möchte ein paar Bekannte wiedersehen, um noch ein wenig mehr über ihr Leben zu erfahren.

Das Wort Bishnoi bedeutet „29“ und steht die für 29 Gebote, die Guru Jambeshwar vor rund 500 Jahren für seine Gemeinde aufstellte. Jambeshwar lebte in einer Zeit, als erbitterte Kämpfe zwischen den hinduistischen Rajputen und den islamischen Eroberern tobten. Er sah das ganze Blutvergießen und dachte, dass es auch einen Weg geben müsste, wie alle Lebewesen friedlich zusammenleben können. Und das Ergebnis seiner Gedanken waren die 29 Gebote, die für die Bishnois noch bis heute alle wesentlichen Aspekte ihres Lebens regeln.

Die Gebote umfassen ganz weltliche Dinge, wie zum Beispiel die Regeln, sich täglich zu waschen, keinen Alkohol und kein Drogen zu konsumieren und in Neumond-Nächten zu fasten und zu meditieren. Es geht aber auch um ganz grundlegende Dinge, wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Empfehlung „Denke, bevor Du sprichst“ oder das Gebot andere niemals zu verurteilen.

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Der essentiellste Gedanke der Bishnoi-Philosophie ist jedoch, dass kein Lebewesen einem anderen Lebewesen in irgendeiner Form Schaden zufügen darf. Dies schließt alle Tiere bis hin zu den Allerkleinsten und auch die Bäume mit ein. Und damit gelten die Bishnois als die ersten Umweltschützer der Erde. Sie behandeln alle Tiere mit größtem Respekt, sind strikte Vegetarier und würden niemals einen Baum fällen. Für den Bau von Zäunen oder das Anschüren von Feuer werden bestenfalls Äste benutzt, die bereits abgestorben sind und vom Boden aufgelesen werden.

Die Bishnois leben überwiegend in der Wüste Rajasthans und sind eine eigene, kleine Religionsgemeinschaft innerhalb des Hinduismus. Ihr respektvoller, sorgsamer Umgang mit der Natur hat dazu geführt, dass ihre Wüstengebiete erstaunlich grün sind und so viele wilde Tiere beherbergen, wie kaum eine andere Region außerhalb der indischen Nationalparks. Die Bishnoi-Gebiete sind Rückzugsgort für viele seltene Gazellen, Antilopen und Scharen von Zugvögeln. Im Winter kann man hier Hunderte von Flamingos und die seltenen Sibirischen Kraniche beobachten.

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Ganz besonders heilig ist den Bishnois die kleine, scheue Chinkara-Gazelle, da sie glauben, dass dieses zarte Geschöpf besonderen Schutz benötigt und dass ihr der Geist Guru Jambeshwars innewohnt. Und wenn jemand dieser kleinen Antilope etwas zuleide tut, kann man erleben, wie die sonst so friedfertigen Bishnois zu wahren Kämpfern werden und nicht ruhen, bis über den Wilderer eine gerechte Strafe verhängt wurde. Ganz besondere Schlagzeilen machte dabei der Fall von Salman Khan – einem der erfolgreichsten Bollywood-Stars Indiens. Als er bei einer wilden Jeep-Tour mit seinem Freunden aus reiner Jagdlust eine Chinkara-Gazelle erschoss, führte dies zu einem unfassbaren Protest der Bishnoi-Gemeinschaft, die nicht davor zurückschreckten den Obersten Gerichtshof von Rajasthan anzurufen, um für den Filmstar eine Strafe zu erwirken.

Mein erster Weg führte mich noch einmal in den Bishnoi-Tempel, den ich schon im Jahr 2013 besucht hatte und in dem ich noch einmal den obersten Priester Swami Visnudhanand treffen wollte, da sich bei meinem letzten Besuch keine Gelegenheit für ein ausführliches Gespräch ergab. Der Swami ist schon seit 25 Jahren der höchste Priester des kleinen Tempels. Wie jeden Morgen findet auch an diesem Tag eine kleine Zeremonie statt, der auch ich beiwohnen darf. Männer und Frauen sitzen getrennt im Innenhof des kleinen Tempels, beten zusammen und opfern dem Tempelfeuer Kokosnussschalen und Ghee – ein für Indien typisches Butterschmalz, das ansonsten als Speisefett und als Heilmittel in der ayurvedischen Heilkunde verwendet wird.

Nach der Andacht sitze ich mit dem Swami im schattigen Innenhof und er erklärt mir, wie wichtig es ist, einen reinen Geist zu haben und dass deshalb auch die Farbe der Reinheit – ein strahlendes Weiß – die traditionelle Kleidungsfarbe aller Bishnoi-Männer ist.

Ich frage ihn, was aus seiner Sicht Glück bedeutet und er antwortet, dass wahres Glück sei, herauszufinden wer man wirklich ist – ganz ihm innersten Wesen und unabhängig von allen Äußerlichkeiten, die, wie er betont, ohnehin vergänglich sind. Und natürlich sprechen wir auch über den Grundgedanken der Bishnoi-Philosophie und der Swami sagt „Menschen und Tiere sind wie eine Familie. Und wir sollten uns wie die Mitglieder dieser Familie verhalten“.

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Mich interessiert aber auch, wie sich die Welt der Bishnois über die Generationen hinweg verändert hat. Und so möchte ich noch einmal die Familie von Khemkaran Bishnoi treffen, der mich vor 4 Jahren begleitet hatte, als ich zum ersten Mal bei den Bishnois unterwegs war und deren Alltag kennenlernen wollte. Zuerst besuche ich seinen Vater Harji Ram Siyag Bishnoi, der mittlerweile 85 Jahre alt ist und sich – zu meiner großen Freude – immer noch bester Gesundheit erfreut. Ich finde ihn am Ende eines heißen Tages im Schatten seines Innenhofs. Er sitzt auf einer traditionelle Maja, einem hölzernen Bettgestell, das man in jedem Haushalt der Landregionen findet und plaudert mit einem seiner Söhne, der wie er Farmer geworden ist und direkt im Nachbarhaus wohnt.

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Harji musste ein Leben lang hart arbeiten, um seine acht Kinder zu versorgen. Er hatte mehrere Felder und lebte unter anderem auch von der Milch seiner Kühe, Büffel und Kamele. Bis zum Alter von 75 Jahren arbeitete er noch regelmäßig auf dem Feld und ich kann mich erinnern, dass ich ihn auch damals, bei meinem ersten Besuch, bei der Feldarbeit angetroffen hatte. Es war damals gerade Erntezeit und er half seinen Kindern dabei, die Ernte einzubringen.

Die Arbeit auf den Feldern ist extrem hart, da es in den Bishnoi-Dörfern noch kaum Maschinen für die Feldarbeit gibt. Und Harji gibt zu, dass auch er, wie viele ältere Bishnois, Opium konsumieren musste, um die kräftezehrende Arbeit in der sengenden Hitze der Wüste durchzustehen. Eines der Bishnoi-Gebote besagt zwar „Konsumiere kein Opium“ – doch es ist wohl das einzige Gebot, das von nahezu allen Bishnois missachtet wird. Das Opium hilft den harten Alltag zu meistern und vertreibt die Schmerzen, die sich mit dem Alter einstellen. Harji ist es jedoch wichtig zu betonen, dass er alle anderen Bishnoi-Regeln ein Leben lang strikt befolgt hat.

Von seinen fünf Söhnen sind nur zwei Farmer geworden, wie er. Einer wurde Schreiner und zwei haben sogar studiert. Sein Sohn Khemkaran wurde Ingenieur. Er arbeitet und wohnt mittlerweile ausschließlich in Jodhpur und kommt nur noch selten nach Hause aufs Land. Und bei diesem Besuch hatte er leider auch keine Zeit mich wiederzusehen, da wichtige Straßenbauprojekte und Termine ihn von einem Besuch abhielten. Khemkaran hat vier Kinder – 3 Söhne und 1 Tochter – und seinen ältesten Sohn Amit darf ich bei diesem Besuch zum ersten Mal kennenlernen.

Amit hat die Leitung eines kleinen Wüsten-Camps übernommen, das Khemkaran vor vielen Jahren gegründet hat, um Safaris und Kamelausflüge in die nähere Umgebung anzubieten. Wie sein Vater spricht er ein gutes Englisch und ist wie er auch meist recht westlich gekleidet. Er ist seit ein paar Jahren verheiratet und hat einen kleinen Sohn.

Wenn ich die drei Generationen vergleiche, so habe ich das Gefühl, dass die Bishnoi-Gesellschaft einer großen Veränderung unterworfen ist. Die Bishnois waren über Jahrhunderte hinweg Farmer, doch ihre Kinder haben heute meistens eine gute Schulbildung und entscheiden sich oft gegen diesen harten Beruf und ein Leben auf dem Land. Sie studieren, tragen westliche Kleidung und ziehen oft vom Land in die Stadt.

Doch ich möchte von Harji wissen, wie er es empfindet und wie sich die Welt der Bishnois in seinen Augen während seines langen Leben verändert hat. Und der alte Mann bestätigt mir, dass mein Eindruck durchaus richtig ist und tatsächlich sehr Vieles im Umbruch ist. Die Bishnois üben heute neue Berufe aus, sind in vielen religiösen Dingen nicht mehr ganz so streng wie früher und stellen sich den Anforderungen einer modernen, technisierten Welt. Doch er betont, dass in allen wesentlichen Dingen die Werte der Bishnois nach wie vor unverändert sind. Auch ein Bishnoi der jungen Generation respektiert und schützt seine Umwelt und hat diese Werte zutiefst verinnerlicht. Und das – so meint Harji – sei doch das Wichtigste.

Ich frage ihn auch, ob es in seinem langen Leben irgendwelche dramatischen oder schicksalhaften Ereignisse gab. Er überlegt kurz und sagt nein, da würde ihm jetzt absolut nichts einfallen. Sein ganzes Leben sei harmonisch, friedlich und schön gewesen. Wie den Swami frage ich auch ihn nach dem Glück und er sagt sein größtes Glück sei immer seine Familie gewesen und er meint „Mein Leben war immer sehr friedlich und schön. Doch heute bin ich zutiefst glücklichIch. Ich bin so stolz auf meine Kinder und wie sie ihr Leben meistern. Es gibt absolut nichts mehr, was ich in diesem Leben tun muss. Ich darf einfach nur hier sitzen und mich ausruhen.“

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Das Bild dieses glücklichen, alten Mannes, der im Schatten seines Hauses sitzt und auf ein rundum erfülltes Leben zurückblicken kann, werde ich wohl für immer im Kopf behalten. Und ich denke bei mir, dass die indische Gesellschaft trotz ihrer vielen immensen Probleme auch sehr viele schöne Seiten hat. Wie Harji im Umfeld der eigenen Kinder und Enkel alt zu werden, ist sicher etwas, von dem viele einsame Senioren in unseren Altersheimen nur träumen können.

Das einschneidenste Ereignis in der Geschichte der Bishnois geschah im Jahr 1730, als der Maharaja Abhai Singh von Marwar seinen Soldaten auftrug, für seinen Palast in Jodhpur Bäume zu fällen, die sich in der Region der Bishnois befanden. Die Bishnois strömten zusammen und stellten sich den Soldaten entgegen und als diese nicht davon abließen, ihre geliebten Bäume zu schlagen, umklammerten sie deren Stämme. Daraufhin befahl der Maharaja, dass die Bäume dann eben mit den Köpfen der Bishnois geschlagen werden sollten und so geschah es. 363 Bishnois verloren ihre Köpfe und ihr Leben. Als dem Maharaja das Ausmaß des Massakers zu Ohren kam, empfand er Respekt vor der großen Naturliebe dieser Menschen und zeigte Gnade. Er verfügte schriftlich, dass in den Gebieten der Bishnois nie wieder ein Baum gefällt oder ein Tier getötet werden sollte. Und dieses Dekret gilt noch heute.

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An der Stelle, an der damals das Massaker stattfand, stehen heute eine Gedenkstätte und ein alter Tempelschrein. Und es wird schon seit Jahren ein neuer, prächtiger Tempel gebaut, der ausschließlich mit Spendengeldern der Bishnoi-Gemeinschaft finanziert wird. Da ich gerne sehen möchte, wie weit der Bau in den letzten 4 Jahren vorangegangen ist, fahre ich noch einmal zum Memorial und stelle fest, dass nur noch wenige letzte Arbeiten erledigt werden müssen und der neue, große Tempel schon sehr bald eingeweiht werden kann.

Auf der Fläche vor der Gedenkstätte findet gerade eine große, religiöse Lehrveranstaltung statt, die einmal pro Jahr abgehalten wird und die ich so ganz zufällig miterleben darf. Es sind mehrere hohe Gurus anwesend, die über sieben Tage hinweg mehrere Stunden pro Tag die alten Texte des Hinduismus erklären und interpretieren. Hunderte von Bishnois sitzen getrennt nach Männern und Frauen unter einem riesigen Zeltdach und lauschen gespannt den Erläuterungen. Ich geselle mich zu den Frauen und schaue dem Treiben längere Zeit zu. Nachdem alle die fremdländisch aussehende, blonde Frau hinreichend betrachten konnten, kehrt wieder Ruhe ein und ich bin froh, dass ich die Frauen nicht länger von den Ausführungen der Gurus ablenke, unter denen sich zu meinem Erstaunen sogar auch eine weibliche Priesterin befindet.

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Die Bishnoi-Frauen sitzen friedlich zusammen, stillen ihre kleinen Kinder, plaudern manchmal leise und lauschen ansonsten andächtig den religiösen Ausführungen. Und unwillkürlich muss ich dieses Zusammentreffen mit den oft einschüchternden und monumentalen Zeremonien in unseren christlichen Gotteshäusern vergleichen und denke bei mir, dass ich mich bei dieser Art religiöser Veranstaltung doch deutlich wohler fühle. Oft wird gelacht, es wird eifrig mitgeklatscht, wenn nach einer langen religiösen Unterweisung Musik eingespielt wird und manchmal springen die Frauen dann sogar spontan auf und beginnen zu tanzen. Und es zeigt sich auch wieder an dieser kleinen Veranstaltung, wie überaus friedlich und positiv doch die Religion der Bishnois ist.

Am letzten Tag, den ich in der Bishnoi-Region verbringe, kann ich endlich die Fotos machen, die ich mir schon seit Jahren wünsche und die eine ganz seltene, bezaubernde Tradition der Bishnois zeigen. Um was es dabei geht, wird aber an dieser Stelle noch nicht verraten. Meine schönsten Fotos der Bishnois und diese seltenen Bilder zeige ich in meiner Live-Reportage „Soul of India“.

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